Montag, 2. Juni 2008

Mit dem Zug nach Novosibirsk: Land(schaft) und Leute (in der 3. Klasse)

Nachdem ich in der Nacht zuvor schon von St. Petersburg nach Moskau gefahren bin und dort den Tag verbracht habe, sitze ich am späten Abend im Wartesaal des Yaruslavl-Bahnhofes und warte auf die Bereitstellung meines Zuges. Als der Aufruf kommt, gehe ich zu den Bahnsteigen. Es riecht nach den Abgasen der Dieselloks. Ich steige ein. Die nächsten 50 Stunden werde ich in einem Liegewagen 3. Klasse zusammen mit 50 Russen auf engsten Raum verbringen - eine gute Möglichkeit Russen jenseits der Unimauern kennen zu lernen. Ziel ist Novosibirsk. Während ich mein Gepäck im Bettkasten verstaue, kommen die ersten beiden Mitfahrer in Abteil: Zwei ca. 100kg schwere Glatzköpfe mit Stiernacken, dunkel gekleidet. Der eine hat quer über die Stirn eine frische Narbe, die mit Desinfektionsmittel blau einfärbt ist. Sie fahren nach hause in ihre Heimatstadt Perm im Ural, die sie in ihrem Leben vielleicht 3 Mal verlassen haben. Zu Hitlers Geburtstag verprügeln sie wahrscheinlich „Schwarzhaarige“, gegen Deutsche haben sie aber nichts. Also machen wir eine Flasche Vodka auf und unterhalten uns über die wenigen Themen, bei denen sich unsere Welten berühren. Ich erkläre auf Nachfrage hin, dass ich nicht genau sagen könnte, ob Mercedes, BMW oder Audi die besten Autos baut, vielmehr müsse jeder für sich selbst das richtige Auto finden. Sie wissen, dass BMW „Bayrische Motoren Werke“ bedeutet und Audi eigentlich Horch heißt. Ich gebe das Insiderwissen weiter, dass das BWM-Emblem rotierende Rotorblätter eines Propellerflugzeuges darstellt und korrigiere, dass Ferrari kein deutsches Auto ist, aber, mit einem Augenzwinkern, vielleicht bald. Da glauben sie zu wissen, dass Eon sämtliche russischen Energieerzeuger aufgekauft habe. Ich zeige mich skeptisch, weise aber darauf hin, dass Gasprom sich auch groß in Deutschland einkauft. Wir kommen zu dem Schluss, dass wir im Kriegsfall erst mal Kraftwerke tauschen müssten und lassen das Gespräch in Einvernehmen mit gegenseitigen Komplementen enden: Sie sagen ich würde wie ein Russe trinken, ich sage, dass Russland ein unfassbar großes Land sei. Wir schlafen in dieser Nacht alle sehr gut.
Ich will noch die weiteren Nachbarn im Abteil vorstellen. Da wäre der sympathische freie Künstler Igor, der mit seiner Freundin ebenfalls nach Novosibirsk fährt. Ein netter Kerl, der zurücklächelt, wenn man ihn anlächelt, was in Russland nicht selbstverständlich ist, und ein riesiges Wissen über Zecken hat, weil er selbst schon etliche Male gebissen worden ist. Gegenüber von mir sitzt eine Frau mittleren Alters. Sie ist erleichtert, als wir zu trinken anfangen, macht sich auch ein Bier auf, und sagt, dass Sie in den engen Zügen ohne Bier nicht könne.
Als ich an nächsten Morgen aufwache, treffe ich vor der Toilette einen jungen Burjaten, studierter Jurist, aus Ulan-Ude am Baikalsee. Wir unterhalten uns kurz. Er findet meinen Akzent lustig. Als ich von der Toilette zurückkomme, winkt er mich zu sich er und fragt, ob ich mit ihm, seinem Begleiter und einem weiteren Russen trinken wolle. Ich willige ein, obwohl es erst 9 Uhr morgens ist. Auf dem Tisch steht ein gebratenes Hähnchen, frische Frühlingszwiebeln und ein Flasche Vodka. Der Russe hat bereits Mühe sich zu artikulieren. Sein Körper ist gezeichnet von der Trunksucht. Er fragt, wie wir in Deutschland den 8. Mai begehen. Die Burjaten versuchen in abzuwiegeln, was nicht nötig ist, da er ehe ich antworten kann seine Frage bereits vergessen hat. Und Schwups, da ist es wieder, was besoffenen Russen in Gegenwart von Ausländern einfällt: Alle fürchten sich vor den Russen. Er will meinen Puls überprüfen, die Burjaten wollen ihn abhalten, ich lassen ihn aber gewähren. Ein Ergebnis gibt er nicht bekannt. Wahrscheinlich verzählt. Die erste Flasche Vodka ist bald leer. In einem deutschen Zug ein Problem, in Russland nicht. Alle 5-10 Stunden bleibt der Zug an größeren Bahnhöfen eine halbe Stunde stehen, damit man sich die Füße vertreten kann und nebenbei bei den Omas, die vor jedem Wagon stehen von Vodka über Snacks bis hin zu fertigen vollwertigen Speisen alles kaufen kann. Die beiden Burjaten kaufen Vodka und fragen ihre Dealerin, ob sie auch Aktivkohle hätte. Mir kommt das komisch vor, sie hat aber keine nicht und wir trinken den Vodka so. Wenig später machen meine Trinkgenossen schlapp. Sie hatten ihr Tageswerk wohl schon früher als ich begonnen. Der Russe lässt erschöpft sein Gesicht in die Reste des Hähnchens fallen, und schläft ein. Im Nachbarabteil sitzt eine Oma mit ihren beiden moskauer Enkeln, die ihre Schulferien (Juni, Juli, August) bei ihr in Sibirien verbringen und eine junge Frau. Die Oma schimpft fürchterlich über den Betrunkenen, der vor zwei Tagen Vater geworden sei, und sich nicht mal jetzt zusammenreißen könne. Trotzdem hält sie die Schaffnerin davon ab, den Mann – er ist bereits aus seiner stabilen Lage auf dem Hähnchen auf den Boden gefallen - aus dem Zug zu schmeißen, wischt Boden und das Gesicht des Mannes ab, und bringt ihn dazu, sich hinzulegen. Den Nachmittag über spiele ich mit Oma und Enkeln Karten und Unterhalte mich mit der jungen Frau, einer von jenem Typ, die sofort mit einem Email-Adressen austauscht und verspricht, mir per Internet den Film zu schicken, den ich nicht gekannt habe, aber unbedingt kennen müsse.
In der Nacht steigen die beiden Skins und die Frau aus meinem Abteil aus. Nachdem zwischenzeitlich ein junger aufgeschlossener Russe, der gerade seine 2 Jahre Armeezeit hinter sich gebracht hat, und ein älterer Herr, der sich mehrmals versichern lässt, dass ich „reiner“ Deutscher und nicht Russlanddeutscher bin, mitgefahren sind, steigen fünf neue Passagiere ein: Ein junges Ehepaar mit Tochter und zwei Männer. Der eine ist jung und muskulös, der andere bereits älter mit von Sonne und Vodka gezeichnetem Gesicht. Sie scheinen mir auf dem Bau zu arbeiten. Fragen werden von ihnen nur mit einem unfreundlichen „Was!?“ beantwortet. Nachdem sie ihr Bett gemacht hatten verschwinden sie. Nach kurzer Zeit kommen sie sturzbesoffen wieder. Der Familienvater Hilft ihnen dabei, in ihre Betten hoch zu kommen. Für den Rest der Reise ist nichts mehr von ihnen zuhören. Die Familie hingegen ist durch die Anwesenheit eines Ausländers sichtlich irritiert. Während ihrer fünfstündigen Fahrt unterhalten sie sich nur im Flüsterton und geben sich redlich Mühe, dass ihre Tochter nicht laut ist, obwohl ich versichere, dass es mich nicht stören würde.
Nach der dritten Nacht im Zug steige ich aus und laufe meinem Professor, der mich abholt, direkt in die Arme.